Anfang August verbrachte ich im Rahmen meiner Sommerferien drei Tage rund um den Schwarzsee in den Freiburger Voralpen. Von Fribourg (CH) fuhr ich mit dem Bus rund 50 Minuten aus der Stadt raus, immer weiter ins Land hinein und langsam immer höher hinauf bis zum Schwarzsee, einem etwa 1.5 km langen und 0.5 km breiten schönen See auf etwas mehr als 1’000 Höhenmetern, umgeben von den Bergen der Voralpen. Die Schweiz kann grob in drei geographische Regionen unterteilt werden: Das Jura Gebirge, ein rund 300 km langer Gebirgsbogen an der Grenze zu Deutschland und Frankreich, der bis knapp 1’700 Höhenmeter reicht, das Mittelland, das sich ebenfalls auf etwa 300 km Länge auf einer mittleren Höhe von 400 bis 600 Höhenmetern von Genf bis zum Bodensee erstreckt, und die Alpen, die mit rund 60 % der Landesfläche den gesamten Süden der Schweiz einnehmen. Aus dem Mittelland steigen die Alpen über die Voralpen, die bis etwa 2’500 Höhenmeter reichen, bis zum Alpenhauptkamm mit 48 Gipfeln über 4’000 Höhenmetern an.
Gleich am ersten Tag am Schwarzsee war strahlender Sonnenschein bei völlig blauem Himmel, und ich war bereit für eine ausgiebige Tour. Es ging mit dem Sessellift auf die Riggisalp und von da über den Euschelspass auf den Kaisergg Pass. Ich hatte gelesen, dass es in dieser Gegend Geier geben sollte, aber ich wusste nicht genau, wo sie zu finden waren. Dann, schon auf etwa halber Wegstrecke, geleiteten in einiger Entfernung einige sehr grosse Vögel die Felswände entlang. Die sahen mir sehr nach Geier aus, aber ich konnte sie noch nicht eindeutig zuordnen. Meine Felderfahrung mit Geiern ist bislang noch ziemlich gering. Je höher ich hinaufkam, und je näher ich der eigentlichen Passhöhe kam, desto häufiger wurden die Überflüge der grossen Gleiter. Und immer besser konnte ich sie auch beobachten und einordnen. Mit guter Sicht war es eindeutig: es handelte sich um Gänsegeier.
Gänsegeier am Kaisereggpass, August 2024
Der Gänsegeier ist ein sehr grosser Vogel aus der Familie der Habichtartigen mit einer Flügelspannweite von 2.3 bis 2.7 Metern und einem Gewicht von 7 bis 11 kg. Im Flug sind die deutlich zweifarbigen Flügel gut zu erkennen. Die Hauptfärbung ist grauschwarz und am oberen Ende befindet sich auf Flügelunter- und Oberseite jeweils ein helles Band. Der Rumpf ist sandbraun und der Kopf und der lange Hals, der von einer Halskrause gesäumt wird, sind weiss. Am Boden wirken die Geier etwas unbeholfen, aber in der Luft, mit dem eingezogenen Hals, dem kurzen Schwanz, und den taillierten Schwingen, wirkt der Gänsegeier sehr majestätisch und erhaben. Davon konnte ich mich an diesem Sommertag ausgiebig ein Bild machen.
Oben am Pass hatte ich einen herrlichen Rundumblick über die Voralpen vom Gantrisch Gebiet, über den Schafberg zu den Gastlosen und der Vanil Noir Ketten bis in die schneebedeckten Hauptalpen hinein. Das ganze Gebiet ist intensiv alpwirtschaftlich genutzt, und es befinden sich überall Rinder und Schafe bis auf die Gräte hinauf. So auch rund um den Kaiseregg Pass. Ich konnte die Geier beobachten, wie sie sich auf einer Felskuppe sitzend sammelten und die Gegend beobachteten und sich irgendwann, einer nach dem andern, mühelos lösten und direkt in einen Gleitflug übergingen. So suchten sie systematisch die Gegend ab, auf der Ausschau nach einem verwertbaren Kadaver.
Schafberg (2’239 m.ü.M) mit Alpweiden; Schaf- und Geierparadies; August 2024
Wie viele andere Tiere und auch viele Vögel, vor allen die grossen, wurde der Gänsegeier im 19. und 20. Jahrhundert massiv verfolgt. Durch intensive Schutzmassnahmen und Wiederansiedlungsprojekten – insbesondere im Massif Central in Frankreich und auch in Italien – ab den 1980er Jahren stiegen die Bestände wieder an und werden heute gemäss dem European Breeding Bird Atlas 2 auf rund 34’000 bis 41’000 Paare in Europa geschätzt, wovon Spanien etwa 90 % dieser Bestände hält. Die weltweite Verbreitung reicht von der Iberischen Halbinsel, über die italienische und Balkanhalbinsel, bis nach Zentralasien und Westindien. Einen weiteren Verbreitungsschwerpunkt neben Spanien haben die Gänsegeier im Kaukasus.
Diese Vogelart ist angewiesen auf felsiges Gelände in mittlerer Höhe, in dem durch warme Aufwinde das Segelfliegen mit geringem Energieverbrauch begünstigt wird. Die Biologie dieser Vögel ist vollständig ausgerichtet auf das rasche Auffinden und Ausnehmen von Kadavern von grösseren Säugetieren. Mittels ausdauernder Suchflüge beobachten die Geier aufmerksam das Geschehen, dabei auch andere Vögel oder Raubtiere, und lassen sich beim Auffinden von Tieren rasch in grösseren Gruppen nieder. Die sich fast vollständig von Aas ernährenden Geier finden sich dann in grossen Gruppen ein und dringen mit ihren langen Hälsen in das verendete Tier ein und säubern es bis zum Skelett. An den Fressstellen gibt es unter den verschiedenen Tieren und innerhalb der Gänsegeier Rangordnungen.
Die Gänsegeier sind gesellige Vögel und brüten in grösseren Kolonien im felsigen Gelände. Der Legebeginn liegt im Zeitraum von Jahresanfang bis etwa Ende März und in der Regel wird nur ein Ei gelegt und rund 50 Tage bebrütet. Etwa vier Monate bleiben die Jungen im Nest und werden von den Eltern gefüttert. Nach nochmals etwa drei bis vier Wochen Führungszeit wandern die jungen Geier dann ab. Die Gänsegeier übersommern zunehmend in verschiedenen Teilen der Alpen, so auch ab etwa 2012 in der Schweiz, wo sie jedoch keine Brutvögel sind. Es handelt sich dabei fast ausschliesslich um noch nicht geschlechtsreife jüngere und vereinzelt auch auch um adulte nicht brütende Vögel. Ornithologisch werden sie als „Nahrungsgäste“ bezeichnet.
An diesem Tag genoss ich das herrliche Panorama, die warme Sonne und die Nahansichten der Gänsegeier aus allen Perspektiven. Auf einmal bemerkte ich, wie sich eine Gruppe weit unten am Hang versammelte und um Zugang zu einer Stelle rang, an der sie offensichtlich etwas gefunden hatten. Es war sehr weit weg, aber ich schätzte die Gruppe auf 25 Individuen. Nach rund 10 Minuten war der Tanz schon vorbei, und einer nach dem anderen breitete die Flügel aus und liess sich von den Winden und der Thermik wegtragen. So kreisten sie sich immer höher hinauf, bis sie wieder oben am Pass waren, und zum Teil in kurzer Distanz von mir vorbeisegelten. Zu einem Zeitpunkt zogen 16 Gänsegeier gleichzeitig über mir ihre Kreise. Es war ein magisches Schauspiel, das jedoch auch einen gewissen Beigeschmack hatte. Das Gebiet wird wie erwähnt sehr stark genutzt, in den höheren Lagen hauptsächlich durch grosse Gruppen von Schafen, die sich frei bis in die höchsten Ecken bewegen, und ein Anziehungspunkt für die Gänsegeier darstellen. So verabschiedete ich mich am späten Nachmittag mit gemischten Gefühlen von dieser tollen Kulisse. Einerseits beglückt durch erstaunliche Natureindrücke und andererseits mit der Erkenntnis, dass die Tiere, wie so oft, Zusammenhänge offenlegen und sichtbar machen.
Ende Mai war ich auf einer dreitägigen Vogelbeobachtungstour mit Liberty Bird im Vallée de Joux unterwegs. Das schöne, dünn besiedelte und naturnahe Hochtal auf etwa 1’000 Metern über dem Meer wird südöstlich von der Mont-Teindre-Kette begrenzt und im Nordwesten von der Risoux-Kette, auf deren Kamm die Grenze zu Frankreich verläuft. Schon in früheren Zeiten waren die dichten und artenreichen Wälder mythisch und mystisch umwoben und auch heute noch befindet sich hier eine sehr ausgedehnte unbesiedelte Waldfläche mit vielen alten Fichten, Tannen, Buchen, Kiefern und Bergahornen. Das Tal wird von der Orbe durchflossen, welche den Lac de Joux speist, einen knapp 10 Quadratkilometer grossen See, welcher auf Grund seiner abgeschlossenen hohen Lage mit zum Teil äusserst kalten Wetterlagen immer noch jährlich komplett zufriert.
Lac de Joux, Ende Mai 2024, Jérôme Fischer, Liberty Bird
Auf unseren Erkundungstouren im Frühsommer war es glücklicherweise schon nicht mehr so kalt, und wir konnten die raue Schönheit dieser Gegend geniessen. Die Risoux Wälder bieten einigen bedrohten Tierarten geeignete Rückzugsgebiete. Im Bereich der Vögel sind dies beispielsweise Haselhühner, Auerhühner, Waldschnepfen oder verschiedene Eulenarten. In der Familie der Eigentlichen Eulen finden hier zwei kleine Arten geeignete Refugien vor und sind deshalb noch gut verbreitet: der Raufusskauz und der Sperlingskauz. Letzterem wollen wir uns in diesem Beitrag zuwenden.
Der Sperlingskauz ist die kleinste Eule Europas und ist mir ihrer unauffälligen Lebensweise gar nicht leicht zu entdecken, wenn man nicht wie wir in unserer Gruppe an einem besonderen Tag das Glück hat, von einem ansässigen Ornithologen eine bewohnte Baumhöhle gezeigt zu bekommen. Auffällig sind die weithin zu vernehmenden einzelnen düh oder mehrfachen düh … üüüü Rufe des Männchens, die in der Herbstbalz (September, Oktober) die Reviergründung begleiten und in der Frühjahrsbalz (Februar bis Anfang April) die Paarung vorbereiten und dann in der Nähe der ausgewählten Baumhöhle in Paarungsrufe übergehen. Entdecken kann man so eine Höhle auch aufgrund von Gewölle und Beuteresten am Fuss des Baumes oder wenn Kleinvögel sehr laut und auffällig „zetern“. Dann lohnt sich ein genaueres Umherschauen, weil ein Sperlingskauz der Grund dafür sein könnte.
Der kleine Vogel ist etwa so gross wie ein Star, hat eine Flügelspannweite von 35 bis 38 cm und ein Gewicht von im Durchschnitt rund 60 g bei den Männchen und etwa 75 g bei den Weibchen. Zur Brutzeit können letztere bis zu 100 g schwer werden. Von der Erscheinung her wirkt der Sperlingskauz gedrungen mit feinen Tupfen auf der Stirn und dem Gesichtsfeld, gelben Augen und einem hellen Schnabel. Am Hinterkopf hat er ein sogenanntes Occipital- oder Scheingesicht, eine Zeichnung im Gefieder, die Augen oder ein ganzes Gesicht nachahmt. Am Rücken ist das Gefieder dunkelbraun mit weissen Tupfen, die Brust und der Bauch sind weiss mit schmalen braunen Längsstreifen. Der Schwanz ist braun mit vier bis fünf weissen Querbinden.
Sperlingskauz, Ende Mai 2024 im Vallée de Joux, Bernd Roschitzki
Das Verbreitungsgebiet des Sperlingskauzes erstreckt sich von den borealen Nadelwäldern Nordeuropas über die Hoch- und Mittelgebirge Mitteleuropas (Jura, Alpen, Vogesen, Schwarzwald u.a.) und den Karpaten bis nach Ostsibirien. Die bevorzugten Lebensräume des Sperlingskauzes sind lockere Nadel- und Mischwälder mit viel Totholz und reichlich vorhandenen Spechthöhlen. In den letzten Jahrzehnten konnte der Sperlingskauz seine Areale auch auf eher „untypische“ Waldgebiete mit Mittelland ausdehnen.
An jenem besagten Tag laufen wir eine Weile lang durch die ausgedehnten Hochwälder im Vallée de Joux. Unser einheimischer Ornithologen Guide ist hier wohl schon hunderte Male entlang gelaufen. Im Winter wie im Sommer, früh morgens und spät abends. Wir kommen an eine kleine Kreuzung von Forststrassen und gehen von da ungefähr fünfzig, sechzig Meter in den Wald hinein und platzieren uns in einigem Abstand vor einer Kiefer mit einer schönen Baumhöhle. Alle schauen gespannt dahin und schon nach etwa fünf Minuten sehen wir, wie aus dem Nichts erscheinend und lautlos ein Sperlingskauzweibchen mit einer Maus am Höhleneingang landet.
Sperlingskauz, Ende Mai 2024 im Vallée de Joux, Bernd Roschitzki
In der Gruppe ist deutlich zu spüren, dass alle den Atem anhalten. Sie wartet einige Momente und verschwindet dann im Inneren des Baums. Nach einigen Minuten schaut sie mit dem Kopf raus und studiert die Umgebung. Dann kommt sie ganz raus und fliegt auf einen Ast. Das Männchen ist auch da. Wir hören immer wieder den hohen durchdringenden siiiht Bettellaut des Weibchens.
Sperlingskauz, Ende Mai 2024 im Vallée de Joux, Robert Mršić
Die Sperlingskäuze sind dämmerungsaktiv und während der Balz- und Brutzeit, wie in unserem Fall, auch tagaktiv. Sie sind sehr territorial, verteidigen ihre Reviere vehement und sind sogar gegenüber ihren eigenen Partnern kontaktscheu. Sie müssen in der Balz immer wieder ihren Impuls zur Feindabwehr überwinden, und Männchen und Weibchen haben das ganze Jahr über getrennte Einstände und Schlafplätze. Sperlingskäuze führen eine sogenannte „monogame Saisonehe“. Die selben Partner können aber auch in mehreren Jahren zusammenkommen. Die Brut ab etwa Mitte bis Ende März mit vier bis fünf Eiern wird ausschliesslich vom Weibchen ausgeführt. Das Männchen ist für die Anschaffung der Beute zuständig und lockt das Weibchen mit Rufen zur Beuteübergabe auf einen Ast in der Nähe der Bruthöhle, was wir an diesem Vormittag im Vallée de Joux eindrücklich mitverfolgen können. Gelegentlich darf das Männchen in die Höhle kommen, um Beute abzulegen. Die kleinen Eulen ernähren sich je nach Angebot von Kleinsäugern und Vögeln bis zur Grösse einer Drossel, welche sie aus einer Ansitzjagd heraus (bei den Mäusen) oder durch dynamische Flug- und Verfolgungsjagden (bei Vögeln) erbeuten. Vor allem im Winter legen die Sperlingskäuze Beutedepots in mehren Höhlen oder gelegentlich an geeigneten Stellen in den Bäumen an. Nach rund 30 Tagen schlüpfen die Jungen und nach noch einmal etwa 30 Tagen kommen sie zum ersten Mal aus der Höhle raus und sind dann schon flugfähig. Nach etwa zwei Monaten können die jungen Käuze schon selbst Beute fangen und kurz danach, etwa Ende Juli, beginnen sie das Gebiet zu verlassen und eigene Territorien zu suchen.
Unsere Begegnung mit diesen kleinen spannenden Wesen war für uns alle tief beeindruckend. Wie bescheiden, mutig und individuell sie ihrem Lebensalltag nachgehen, hat mich sehr berührt, und sie sind seither in meinem Bewusstseinsfeld präsent. Nun schaue ich bei meinen Vogelspaziergängen noch genauer hin, wenn ich Spechthöhlen entdecke, weil ja neben vielen anderen potentiellen Bewohnern ein Sperlingskauz drinnen oder in der Nähe sein könnte. Hoffentlich können wir unsere Wälder schützen und Strukturen mit viel Totholz schaffen und erhalten. So sollte doch wieder einmal eine Begegnung mit einem Sperlingskauz möglich sein!
Im Rahmen eines Watvögelkurses bin ich Teil einer Gruppe von rund 20 Vogelliebhaber:innen, die Ende April an einem Sonntag mit mässig schönem Wetter – um es genau zu nehmen ist es ab einem Zeitpunkt Dauerregen – die Region um Yverdon besucht. Yverdon liegt am südwestlichen Ufer des Neuenburgersees, der am Süd- und Ostufer das grösste zusammenhängende Feuchtgebiet der Schweiz – die Grande Cariçaie – mit Schutzstatus nach der Ramsar-Konvention beherbergt. Unser Hauptziel sind jedoch nicht diese vielfältigen Schutzgebiete entlang der Uferbereiche, sondern eine etwa 5 ha grosse Ackerfläche etwa eine halbe Stunde Gehzeit ausserhalb von Yverdon in der Orbe Ebene. Dort haben die Stadt Yverdon, Vogelschützer und Landwirte ein Projekt eingerichtet, in dem jährlich einmal die ganze Fläche für etwa 3 Monate gezielt aus dem Fluss Zihl (frz. La Thielle) geflutet wird, um verschiedenen zu den Brutplätzen im Norden ziehenden Watvögeln einen Rast- und Futterplatz zu bieten. Von den Watvögeln und anderen Arten wird diese Möglichkeit sehr dankend angenommen und für viele Vogelfreunde bietet sich auf einem begrenzten Gebiet die Möglichkeit, diese wunderschönen und faszinierenden Vögel aus nächster Nähe zu beobachten.
Die Watvögel – im Fachjargon auch Limikolen oder fachlich sehr korrekt Regenpfeiferartige genannt – ist eine Gruppe von besonders hübschen und in vielerlei Hinsicht aussergewöhnlichen Vögeln. Kennzeichnende Merkmale für diese Gruppe von Vögel sind: meist sehr lange Zugwege (Langstreckenzieher), Geselligkeit in grossen Gruppen und ruffreudig, Spezialisten für Feuchtgebiete, ernähren sich überwiegend tierisch, brüten am Boden und sind Nestflüchter. Die ganze Gruppe der Regenpfeiferartigen umfasst rund 380 Arten, die eigentlichen Watvögel etwa 200 Arten, regelmässige Brutvögel in Europa sind etwa 40 Arten und in der Schweiz sind es lediglich 4 Arten, die regelmässig zu mehreren hundert Paaren brüten: Waldschnepfe, Flussregenpfeifer, Flussuferläufer und Kiebitz. Was aber aufgrund der regen Zugtätigkeit dieser Vögel möglich ist, ist deren Beobachtung auf ihren Zugwegen, wenn sie mal wo Rast einlegen und sich auftanken und Energiereserven aufbauen. Und an genau so einem Platz stehen wir an diesem Sonntagmorgen nebeneinander verteilt auf einem Damm mit Feldstechern und mehreren Fernrohren bestückt und schauen in die überflutete Fläche.
Der Kursleiter bittet uns, uns zuerst mal selbst einen Überblick zu verschaffen und zu sehen, welche Arten wir von selbst erkennen können. Hier kommen die Tücken der Feldornithologie voll zum Ausdruck, wenn es zu Hause gut gelingt, Vögel im Buch anhand von Fotos zu bestimmen, und wenn man dann mit dem Fernglas hier steht, in die Weite schaut und unzählige sich bewegende Vögel sieht, die man sonst nur sehr selten live zu Gesicht bekommt. Mit Unterstüzung gelingt es uns nach und nach aber immer besser, die verschiedenen Arten mittels der Verwendung von prägnanten (in der Fachsprache diagnostischen !) Mermalen zu erkennen.
Der grösste Watvogel auf der Flutfläche ist der elegante, schlanke, langbeinige und langschnäblige Grünschenkel. Mehrere davon sind in Kleingruppen à drei bis fünf Exemplare unterwegs und stochern mit ihren langen, leicht nach aufwärts gebogenen, Schnäbeln im Schlick nach Fressbarem. Sie haben eine ruhige Art, bewegen sich eher gemächlich, sind oben braun-grau gemustert und unten am Bauch weiss. Ihre Flügelspannweite beträgt rund 60 cm und sie wiegen bis etwa 270 g. Ganz ähnlich im Verhalten an diesem Tag ist eine Gruppe von vier Kampfläufern. Diese wirken äusserlich einheitlich braun, haben einen dunklen deutlich kürzeren Schnabel und sind dafür bekannt, dass sie über ein sehr komplexes Paarungssystem verfügen und die Männchen als ein Ausdruck davon in der Paarungszeit zum Teil sehr auffällige und sehr vielfältige Prachtkleider anziehen, die von fast vollständig weiss bis fast vollständig schwarz in alle erdenklichen Varianten in Balzarenen präsentiert werden. Leider sind sie so bei uns nur selten zu sehen.
Oben: Kampfläufer Männchen und Weibchen iim Prachtkleid, Unten: Grünschenkel im Schlichtkleid, birds-online.ch
Von der Anzahl her am häufigsten an diesem Tag und schon eine Stufe kleiner (rund 90 g und 40 cm Flügelspannweite) sind die auf die Entfernung unauffällig wirkenden aber aus der Nähe anmutig gezeichneten Bruchwasserläufer. Sie haben einen mittellangen Schnabel, einen hellen Überaugenstreif, sind auf der Oberseite braun mit weisen Federenden, an der Brust und am Hals gesprenkelt und auf der Unterseite weiss. Ein bisschen kleiner und deutlich einheitlicher gezeichnet, nämlich oben dunkelbraun und unten weiss, sind auf der ganzen Wiese verteilte einzelne Exemplare des Flussuferläufers. Diese sind an ihrem weissen „Komma“ oder Keil auf der Seite und einem auffälligen Wippen des Hinterkörpers gut auch aus der Entfernung zu erkennen. Diese Vogelart brütet nach wie vor in geringen Zahlen an verschiedenen Standorten in der Schweiz.
Sehr hübsch anzusehen und bei mir mit einem Staunen verbunden, wenn ich sie durch das Fernglas entdecken kann, sind verschiedene Sandregenpfeifer. Sie sind ebenfalls oben einheitlich braun und unten weiss, aber sie haben eine schwarz Augenmaske und ein schwarzes Halsband, dazwischen einen weissen Ring und einen orangen Schnabel mit einer schwarzen Spitze. Sehr typisch für den Sandregenpfeifer sind schnelle Sprints mit plötzlichen Stopps, um Nahrung aufzupicken und das Trippeln auf der Stelle. Ähnlich im Aussehen aber noch viel feiner gebaut sind die Flussregenpfeifer. Sie haben einen dunklen Schnabel und einen auffälligen gelben Lidring. Auch ihnen ist ein schnelles Rennen mit abrupten Stopps und Trippeln auf der Stelle eigen. Flussregenpfeifer brüten über ganz Mittel- und Südeuropa verteilt im Binnenland. Ihre ursprünglichen Lebensräume, natürliche Flussläufe mit Sand- und Kiesflächen, sind in den letzten Jahrzehnten immer seltener geworden. In der Schweiz brüten diese Vögel noch mit etwa 100 Paaren.
Die ganze Gruppe von Birdern ist nach rund zwei Stunden intensivem Beobachten, Vergleichen, Austauschen mit den andern, Bewundern und Staunen, beglückt, soviel konzentriere Schönheit bewundern zu dürfen. Auf der einen Seite ist es wohltuend zu sehen und sehr zu begrüssen, dass sich Menschen zusammengefunden haben in so einer Initiative und ein von Menschenhand geschaffenes Habitat pflegen. Auf der anderen Seite ist es ein Drama, dass so etwas derart notwendig ist und durch die vielzählige Annahme durch die Vögel ein Ausdruck von deren grossen Not. Ich hoffe sehr, dass dieses Projekt als Beispiel dienen kann und viele weitere folgen und irgendwann sogar wieder vermehrt derartige Lebensräume durch Renaturierungen entstehen. Die Watvögel würden es uns danken und könnten weiterhin die vielen Länder durch ihre Zugwege miteinander verbinden, ihre aussergewöhnlichen, gelegentlich melancholischen Rufe erklingen lassen und die verschiedenen Lebensräume mit ihren zum Teil immens langen Schnäbeln pflegen.