Gänsegeier in den Freiburger Voralpen

von | Aug. 26, 2024

Anfang August verbrachte ich im Rahmen meiner Sommerferien drei Tage rund um den Schwarzsee in den Freiburger Voralpen. Von Fribourg (CH) fuhr ich mit dem Bus rund 50 Minuten aus der Stadt raus, immer weiter ins Land hinein und langsam immer höher hinauf bis zum Schwarzsee, einem etwa 1.5 km langen und 0.5 km breiten schönen See auf etwas mehr als 1’000 Höhenmetern, umgeben von den Bergen der Voralpen. Die Schweiz kann grob in drei geographische Regionen unterteilt werden: Das Jura Gebirge, ein rund 300 km langer Gebirgsbogen an der Grenze zu Deutschland und Frankreich, der bis knapp 1’700 Höhenmeter reicht, das Mittelland, das sich ebenfalls auf etwa 300 km Länge auf einer mittleren Höhe von 400 bis 600 Höhenmetern von Genf bis zum Bodensee erstreckt, und die Alpen, die mit rund 60 % der Landesfläche den gesamten Süden der Schweiz einnehmen. Aus dem Mittelland steigen die Alpen über die Voralpen, die bis etwa 2’500 Höhenmeter reichen, bis zum Alpenhauptkamm mit 48 Gipfeln über 4’000 Höhenmetern an.

Oben links: Schwarzsee; Oben rechts: Urlandschaft Brecca; Unten: Voralpenpanorama; August 2024

Gleich am ersten Tag am Schwarzsee war strahlender Sonnenschein bei völlig blauem Himmel, und ich war bereit für eine ausgiebige Tour. Es ging mit dem Sessellift auf die Riggisalp und von da über den Euschelspass auf den Kaisergg Pass. Ich hatte gelesen, dass es in dieser Gegend Geier geben sollte, aber ich wusste nicht genau, wo sie zu finden waren. Dann, schon auf etwa halber Wegstrecke, geleiteten in einiger Entfernung einige sehr grosse Vögel die Felswände entlang. Die sahen mir sehr nach Geier aus, aber ich konnte sie noch nicht eindeutig zuordnen. Meine Felderfahrung mit Geiern ist bislang noch ziemlich gering. Je höher ich hinaufkam, und je näher ich der eigentlichen Passhöhe kam, desto häufiger wurden die Überflüge der grossen Gleiter. Und immer besser konnte ich sie auch beobachten und einordnen. Mit guter Sicht war es eindeutig: es handelte sich um Gänsegeier.

Der Gänsegeier ist ein sehr grosser Vogel aus der Familie der Habichtartigen mit einer Flügelspannweite von 2.3 bis 2.7 Metern und einem Gewicht von 7 bis 11 kg. Im Flug sind die deutlich zweifarbigen Flügel gut zu erkennen. Die Hauptfärbung ist grauschwarz und am oberen Ende befindet sich auf Flügelunter- und Oberseite jeweils ein helles Band. Der Rumpf ist sandbraun und der Kopf und der lange Hals, der von einer Halskrause gesäumt wird, sind weiss. Am Boden wirken die Geier etwas unbeholfen, aber in der Luft, mit dem eingezogenen Hals, dem kurzen Schwanz, und den taillierten Schwingen, wirkt der Gänsegeier sehr majestätisch und erhaben. Davon konnte ich mich an diesem Sommertag ausgiebig ein Bild machen.

Oben am Pass hatte ich einen herrlichen Rundumblick über die Voralpen vom Gantrisch Gebiet, über den Schafberg zu den Gastlosen und der Vanil Noir Ketten bis in die schneebedeckten Hauptalpen hinein. Das ganze Gebiet ist intensiv alpwirtschaftlich genutzt, und es befinden sich überall Rinder und Schafe bis auf die Gräte hinauf. So auch rund um den Kaiseregg Pass. Ich konnte die Geier beobachten, wie sie sich auf einer Felskuppe sitzend sammelten und die Gegend beobachteten und sich irgendwann, einer nach dem andern, mühelos lösten und direkt in einen Gleitflug übergingen. So suchten sie systematisch die Gegend ab, auf der Ausschau nach einem verwertbaren Kadaver.

Schafberg (2’239 m.ü.M) mit Alpweiden; Schaf- und Geierparadies; August 2024

Wie viele andere Tiere und auch viele Vögel, vor allen die grossen, wurde der Gänsegeier im 19. und 20. Jahrhundert massiv verfolgt. Durch intensive Schutzmassnahmen und Wiederansiedlungsprojekten – insbesondere im Massif Central in Frankreich und auch in Italien – ab den 1980er Jahren stiegen die Bestände wieder an und werden heute gemäss dem European Breeding Bird Atlas 2 auf rund 34’000 bis 41’000 Paare in Europa geschätzt, wovon Spanien etwa 90 % dieser Bestände hält. Die weltweite Verbreitung reicht von der Iberischen Halbinsel, über die italienische und Balkanhalbinsel, bis nach Zentralasien und Westindien. Einen weiteren Verbreitungsschwerpunkt neben Spanien haben die Gänsegeier im Kaukasus.

Diese Vogelart ist angewiesen auf felsiges Gelände in mittlerer Höhe, in dem durch warme Aufwinde das Segelfliegen mit geringem Energieverbrauch begünstigt wird. Die Biologie dieser Vögel ist vollständig ausgerichtet auf das rasche Auffinden und Ausnehmen von Kadavern von grösseren Säugetieren. Mittels ausdauernder Suchflüge beobachten die Geier aufmerksam das Geschehen, dabei auch andere Vögel oder Raubtiere, und lassen sich beim Auffinden von Tieren rasch in grösseren Gruppen nieder. Die sich fast vollständig von Aas ernährenden Geier finden sich dann in grossen Gruppen ein und dringen mit ihren langen Hälsen in das verendete Tier ein und säubern es bis zum Skelett. An den Fressstellen gibt es unter den verschiedenen Tieren und innerhalb der Gänsegeier Rangordnungen.

Die Gänsegeier sind gesellige Vögel und brüten in grösseren Kolonien im felsigen Gelände. Der Legebeginn liegt im Zeitraum von Jahresanfang bis etwa Ende März und in der Regel wird nur ein Ei gelegt und rund 50 Tage bebrütet. Etwa vier Monate bleiben die Jungen im Nest und werden von den Eltern gefüttert. Nach nochmals etwa drei bis vier Wochen Führungszeit wandern die jungen Geier dann ab. Die Gänsegeier übersommern zunehmend in verschiedenen Teilen der Alpen, so auch ab etwa 2012 in der Schweiz, wo sie jedoch keine Brutvögel sind. Es handelt sich dabei fast ausschliesslich um noch nicht geschlechtsreife jüngere und vereinzelt auch auch um adulte nicht brütende Vögel. Ornithologisch werden sie als „Nahrungsgäste“ bezeichnet.

An diesem Tag genoss ich das herrliche Panorama, die warme Sonne und die Nahansichten der Gänsegeier aus allen Perspektiven. Auf einmal bemerkte ich, wie sich eine Gruppe weit unten am Hang versammelte und um Zugang zu einer Stelle rang, an der sie offensichtlich etwas gefunden hatten. Es war sehr weit weg, aber ich schätzte die Gruppe auf 25 Individuen. Nach rund 10 Minuten war der Tanz schon vorbei, und einer nach dem anderen breitete die Flügel aus und liess sich von den Winden und der Thermik wegtragen. So kreisten sie sich immer höher hinauf, bis sie wieder oben am Pass waren, und zum Teil in kurzer Distanz von mir vorbeisegelten. Zu einem Zeitpunkt zogen 16 Gänsegeier gleichzeitig über mir ihre Kreise. Es war ein magisches Schauspiel, das jedoch auch einen gewissen Beigeschmack hatte. Das Gebiet wird wie erwähnt sehr stark genutzt, in den höheren Lagen hauptsächlich durch grosse Gruppen von Schafen, die sich frei bis in die höchsten Ecken bewegen, und ein Anziehungspunkt für die Gänsegeier darstellen. So verabschiedete ich mich am späten Nachmittag mit gemischten Gefühlen von dieser tollen Kulisse. Einerseits beglückt durch erstaunliche Natureindrücke und andererseits mit der Erkenntnis, dass die Tiere, wie so oft, Zusammenhänge offenlegen und sichtbar machen.