Sperlingskäuze im Vallée de Joux

von | Jul 11, 2024

Ende Mai war ich auf einer dreitägigen Vogelbeobachtungstour mit Liberty Bird im Vallée de Joux unterwegs. Das schöne, dünn besiedelte und naturnahe Hochtal auf etwa 1’000 Metern über dem Meer wird südöstlich von der Mont-Teindre-Kette begrenzt und im Nordwesten von der Risoux-Kette, auf deren Kamm die Grenze zu Frankreich verläuft. Schon in früheren Zeiten waren die dichten und artenreichen Wälder mythisch und mystisch umwoben und auch heute noch befindet sich hier eine sehr ausgedehnte unbesiedelte Waldfläche mit vielen alten Fichten, Tannen, Buchen, Kiefern und Bergahornen. Das Tal wird von der Orbe durchflossen, welche den Lac de Joux speist, einen knapp 10 Quadratkilometer grossen See, welcher auf Grund seiner abgeschlossenen hohen Lage mit zum Teil äusserst kalten Wetterlagen immer noch jährlich komplett zufriert.

Lac de Joux, Ende Mai 2024, Jérôme Fischer, Liberty Bird

Auf unseren Erkundungstouren im Frühsommer war es glücklicherweise schon nicht mehr so kalt, und wir konnten die raue Schönheit dieser Gegend geniessen. Die Risoux Wälder bieten einigen bedrohten Tierarten geeignete Rückzugsgebiete. Im Bereich der Vögel sind dies beispielsweise Haselhühner, Auerhühner, Waldschnepfen oder verschiedene Eulenarten. In der Familie der Eigentlichen Eulen finden hier zwei kleine Arten geeignete Refugien vor und sind deshalb noch gut verbreitet: der Raufusskauz und der Sperlingskauz. Letzterem wollen wir uns in diesem Beitrag zuwenden.

Der Sperlingskauz ist die kleinste Eule Europas und ist mir ihrer unauffälligen Lebensweise gar nicht leicht zu entdecken, wenn man nicht wie wir in unserer Gruppe an einem besonderen Tag das Glück hat, von einem ansässigen Ornithologen eine bewohnte Baumhöhle gezeigt zu bekommen. Auffällig sind die weithin zu vernehmenden einzelnen düh oder mehrfachen düh … üüüü Rufe des Männchens, die in der Herbstbalz (September, Oktober) die Reviergründung begleiten und in der Frühjahrsbalz (Februar bis Anfang April) die Paarung vorbereiten und dann in der Nähe der ausgewählten Baumhöhle in Paarungsrufe übergehen. Entdecken kann man so eine Höhle auch aufgrund von Gewölle und Beuteresten am Fuss des Baumes oder wenn Kleinvögel sehr laut und auffällig „zetern“. Dann lohnt sich ein genaueres Umherschauen, weil ein Sperlingskauz der Grund dafür sein könnte.

Der kleine Vogel ist etwa so gross wie ein Star, hat eine Flügelspannweite von 35 bis 38 cm und ein Gewicht von im Durchschnitt rund 60 g bei den Männchen und etwa 75 g bei den Weibchen. Zur Brutzeit können letztere bis zu 100 g  schwer werden. Von der Erscheinung her wirkt der Sperlingskauz gedrungen mit feinen Tupfen auf der Stirn und dem Gesichtsfeld, gelben Augen und einem hellen Schnabel. Am Hinterkopf hat er ein sogenanntes Occipital- oder Scheingesicht, eine Zeichnung im Gefieder, die Augen oder ein ganzes Gesicht nachahmt. Am Rücken ist das Gefieder dunkelbraun mit weissen Tupfen, die Brust und der Bauch sind weiss mit schmalen braunen Längsstreifen. Der Schwanz ist braun mit vier bis fünf weissen Querbinden.

Sperlingskauz, Ende Mai 2024 im Vallée de Joux, Bernd Roschitzki

Das Verbreitungsgebiet des Sperlingskauzes erstreckt sich von den borealen Nadelwäldern Nordeuropas über die Hoch- und Mittelgebirge Mitteleuropas (Jura, Alpen, Vogesen, Schwarzwald u.a.) und den Karpaten bis nach Ostsibirien. Die bevorzugten Lebensräume des Sperlingskauzes sind lockere Nadel- und Mischwälder mit viel Totholz und reichlich vorhandenen Spechthöhlen. In den letzten Jahrzehnten konnte der Sperlingskauz seine Areale auch auf eher „untypische“ Waldgebiete mit Mittelland ausdehnen.

An jenem besagten Tag laufen wir eine Weile lang durch die ausgedehnten Hochwälder im Vallée de Joux. Unser einheimischer Ornithologen Guide ist hier wohl schon hunderte Male entlang gelaufen. Im Winter wie im Sommer, früh morgens und spät abends. Wir kommen an eine kleine Kreuzung von Forststrassen und gehen von da ungefähr fünfzig, sechzig Meter in den Wald hinein und platzieren uns in einigem Abstand vor einer Kiefer mit einer schönen Baumhöhle. Alle schauen gespannt dahin und schon nach etwa fünf Minuten sehen wir, wie aus dem Nichts erscheinend und lautlos ein Sperlingskauzweibchen mit einer Maus am Höhleneingang landet.

Sperlingskauz, Ende Mai 2024 im Vallée de Joux, Bernd Roschitzki

In der Gruppe ist deutlich zu spüren, dass alle den Atem anhalten. Sie wartet einige Momente und verschwindet dann im Inneren des Baums. Nach einigen Minuten schaut sie mit dem Kopf raus und studiert die Umgebung. Dann kommt sie ganz raus und fliegt auf einen Ast. Das Männchen ist auch da. Wir hören immer wieder den hohen durchdringenden siiiht Bettellaut des Weibchens.

Sperlingskauz, Ende Mai 2024 im Vallée de Joux, Robert Mršić

Die Sperlingskäuze sind dämmerungsaktiv und während der Balz- und Brutzeit, wie in unserem Fall, auch tagaktiv. Sie sind sehr territorial, verteidigen ihre Reviere vehement und sind sogar gegenüber ihren eigenen Partnern kontaktscheu. Sie müssen in der Balz immer wieder ihren Impuls zur Feindabwehr überwinden, und Männchen und Weibchen haben das ganze Jahr über getrennte Einstände und Schlafplätze. Sperlingskäuze führen eine sogenannte „monogame Saisonehe“. Die selben Partner können aber auch in mehreren Jahren zusammenkommen. Die Brut ab etwa Mitte bis Ende März mit vier bis fünf Eiern wird ausschliesslich vom Weibchen ausgeführt. Das Männchen ist für die Anschaffung der Beute zuständig und lockt das Weibchen mit Rufen zur Beuteübergabe auf einen Ast in der Nähe der Bruthöhle, was wir an diesem Vormittag im Vallée de Joux eindrücklich mitverfolgen können. Gelegentlich darf das Männchen in die Höhle kommen, um Beute abzulegen. Die kleinen Eulen ernähren sich je nach Angebot von Kleinsäugern und Vögeln bis zur Grösse einer Drossel, welche sie aus einer Ansitzjagd heraus (bei den Mäusen) oder durch dynamische Flug- und Verfolgungsjagden (bei Vögeln) erbeuten. Vor allem im Winter legen die Sperlingskäuze Beutedepots in mehren Höhlen oder gelegentlich an geeigneten Stellen in den Bäumen an. Nach rund 30 Tagen schlüpfen die Jungen und nach noch einmal etwa 30 Tagen kommen sie zum ersten Mal aus der Höhle raus und sind dann schon flugfähig. Nach etwa zwei Monaten können die jungen Käuze schon selbst Beute fangen und kurz danach, etwa Ende Juli, beginnen sie das Gebiet zu verlassen und eigene Territorien zu suchen.

Unsere Begegnung mit diesen kleinen spannenden Wesen war für uns alle tief beeindruckend. Wie bescheiden, mutig und individuell sie ihrem Lebensalltag nachgehen, hat mich sehr berührt, und sie sind seither in meinem Bewusstseinsfeld präsent. Nun schaue ich bei meinen Vogelspaziergängen noch genauer hin, wenn ich Spechthöhlen entdecke, weil ja neben vielen anderen potentiellen Bewohnern ein Sperlingskauz drinnen oder in der Nähe sein könnte. Hoffentlich können wir unsere Wälder schützen und Strukturen mit viel Totholz schaffen und erhalten. So sollte doch wieder einmal eine Begegnung mit einem Sperlingskauz möglich sein!